Die Vorgeschichte
Im Alter von etwa 10 Jahren erzählte mir mein Großonkel Johann Valek (geb.1909), Fuhrunternehmer und Schottergrubenbesitzer in Ringelsdorf, immer wieder von seinen Erlebnissen im 2. Weltkrieg, wenn ich mit ihm in seinem Lastwagen oder Bagger saß. Er war im Dez. 1942 als Schwerverwundeter aus dem "Kessel von Stalingrad" ausgeflogen worden. Einer von 34.000.
Ich hatte in diesem Alter keinerlei Vorstellungen von Krieg, trotzdem hat sich das Thema "Stalingrad" in meinem Kopf festgesetzt und mich mein ganzes Leben lang begleitet. In unregelmäßigen Zeitabständen kam es mir immer wieder unter.
Als ich 1991 nach einem Sturzunfall, bei dem ich mir einen Wirbelbruch zugezogen hatte, im LKH Steyr lag und behandelt wurde, war mein Bettnachbar im Sechserzimmer ein älterer Herr, der tagelang neben mir lag. Wir plauderten. Eines Tages erzählte er mir stundenlang von seinen soldatischen Erlebnissen in Stalingrad.
Am nächsten Tag wurde er aus dem LKH entlassen, als ich bei einer Untersuchung war. Ich wusste weder seinen Namen noch seine Adresse, erfuhr sie (wohl aus Datenschutzgründen) auch nicht vom Personal des LKH.
Ein Jahr später - ich hatte während eines halben Jahres Krankenstand zu schreiben begonnen - las ich in der Zeitung von Josef Schönegger aus St. Peter in der Au, dessen Feldpostbrief in einem Museum in Wolgograd (früher Stalingrad) gefunden worden war.
Das kam so:
Am 30. September 1992 erteilte der damalige Wiener Bürgemeister Dr. Helmut Zilk dem Historischen Museum in Wien den Auftrag, eine Gedenkausstellung zum Thema "50 Jahre Stalingrad" zu organisieren. Der ORF-Mitarbeiter Walter Seledec war mit einem ORF-Team in Wolgograd (dem ehemaligen Stalingrad) und entdeckte, dass die sterblichen Überreste tausender gefallener, verhungerter oder erfrorener Soldaten unbestattet in der Steppe verstreut lagen.
Das Schlachtfeld von Stalingrad, wo im Jänner 1943 die 6. Armee der Deutschen Wehrmacht mit 300.000 Mann untergegangen war, war kurz zuvor noch militärisches Sperrgebiet. Als dieser Status aufgehoben wurde, sammelten Plünderer Kriegsrelikte und machten sie auf den Flohmärkten zwischen Wolgograd und Moskau zu Geld.
Der Leiter des Historischen Museums, Dr. Wilhelm Deutschmann, reiste nach Wolgograd, durfte die Schlachtfelder besichtigen und war von dem was er sah, zutiefst erschüttert. In einem Museum in Wolgograd entdeckte er die nach der Schlacht liegen gebliebenen Feldpostkarten - auch von "ostmärkischen Soldaten. Durch einen geschickten Schachzug - er hatte die stellvertretende Bürgermeisterin zur Ausstellungseröffnung nach Wien eingeladen - erhielt er die Erlaubnis, 14 solcher Feldpostbriefe zu kopieren.
Wieder in Österreich setzte sich Dr. Deutschmann ans Telefon, stieß bei seinem 2. Anruf auf die Familie Großhagauer, an die Josefs Feldpostkarte gerichtet war, erfuhr zu seinem größten Erstaunen, dass Josef Schönegger noch lebte.
Dass 50 Jahre nach dem Ende der mörderischen Schlacht von Stalingrad, bei der über eine Million Menschen ums Leben gekommen waren, davon über 200.000 Wehrmachtssoldaten, noch ein Mann - Josef Schönegger - lebte, erfuhren die Medien. Von den 90.000 in russische Krieggefangenschaft geratene Soldaten hatten nur 5.000 überlebt. Medien brachten TV- und Zeitungsberichte über dieses Aufsehen erregende Ereignis.
Ich las davon in der Zeitung, war wie elektrisiert, suchte mir die Telefonnummer des Josef Schönegger, der nur 3 km von mir entfernt lebte, aus dem Telefonbuch, rief ihn an, fragte, ob ich ihn besuchen dürfe ... und saß eine halbe Stunde später in seinem Wohnzimmer.
Er erzählte mir seine Geschichte, unglaubliche Details, die er nur deshalb nicht vergessen, weil er sie immer wieder erzählt hatte. 4 Stunden lang. Ich war zutiefst bewegt, besuchte ihn in den folgenden Wochen immer wieder. Er erzählte, ich nahm alles auf Tonbandgerät auf, archivierte so 11 Stunden seiner Erzählungen.
Der Mut und das Durchhaltevermögen dieses außergewöhnlichen Mannes - Josef Schönegger - der selbst dann nicht aufgegeben hatte, als alles aussichtslos war, das Leben nur mehr aus Schmerzen bestand, hat mich beeindruckt.
Daher habe ich die Geschichte dieses Mannes aufgeschrieben.
Während des Schreibprozesses besuchte ich ihn immer wieder, freundete mich mit ihm an, fand heraus, dass sein Humor ein wesentlicher Aspekt seiner Überlebensstrategie war. In einer Zeit, in der man alles andere als Humor erwartet hätte.
Im November 1995 erschien das Buch beim Verlag Ennsthaler.
Die Geschichte danach
Als er in den letzten Jahren seines Lebens von slowakischen Pflegerinnen betreut wurde - Marta Petrovic möchte ich an dieser Stelle ganz besonders hervorheben, denn sie hat seine Lebensqualität mit ihrer liebevollen Betreuung bis zu seinem Tod wesentlich verbessert - letztendlich bettlägerig wurde, trotzdem nicht am Leben verzweifelte, wurde ich von seinem Sohn Franz gebeten, einen Nachruf auf ihn zu schreiben. Ich kannte Josef mittlerweile fast 14 Jahre.
Es gelang mir nicht, obwohl ich es immer wieder versucht hatte. Ich schaffte es nicht einen Nachruf auf meinen lebenden väterlichen Freund zu schreiben.
Am Freitag vor dem Palmsonntag 2006 vesuchte ich es wieder, setzte mich mit Zettel und Bleistift hin, begann zu schreiben. Kaum dass ich eine halbe Seite fertig hatte, läutete das Telefon, sein Sohn Franz war dran. Er teilte mir mit, dass sein Vater eben verstorben sei. In dieser Stunde, in der ich seinen Nachruf verfasst hatte. Er stand im 83. Lebensjahr. Es war der 8. April 2006.
Ich ließ alles liegen und stehen, fuhr zu ihm, nahm Abschied von ihm an seinem Sterbebett. Er war sanft eingeschlafen und es schien, als ob der Tod ihm ein Freund geworden war, mehr als 60 Jahre nach dem Tod vieler seiner Kameraden.
Zuhause schrieb ich den Nachruf fertig. Eigentlich sollte ich den bei seinem Begräbnis am Mittwoch in der Karwoche während des Requiems in der Kirche verlesen. Ich hatte jedoch mit meiner Frau eine Toskana-Reise gebucht, konnte nicht an seinem Begräbnis teilnehmen.
Ein lieber Kollege verlas schließlich den Nachruf.
An diesem Mittwoch stand ein Besuch des Marmorsteinbruches in Carrara am Programm. Ich dachte natürlich immer wieder an Josef, nahm einer inneren Eingebung folgend einige Brocken weißen Marmors an mich, wollte ihm einen auf sein Grab stellen.
Am Karfreitag kam ich von der Reise zurück, am Karsamstag besuchte ich Josefs Sohn Franz, der im selben Haus wie er wohnte. Wir sprachen über das Begräbnis.
Franz erzählte mir, dass sein Vater nach der Heimkehr aus seiner Kriegsgefangenschaft im September 1946 nie mehr im Ausland war. Mit einer Ausnahme. Josef hatte mir davon nie erzählt.
Josef Schönegger, dessen schwer verwundeter Fuß (unbehandelter Knöcheldurchschuss vor der Gefangennahme) nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft eben nicht im KH Amstetten amputiert, sondern vom "Boanbruchheiler" Zeilermayer in Steyr mit Staubzucker und einem geheimnisvollen schwarzen Pflaster behandelt und gerettet wurde, arbeitete zeitlebens als Maurer und Fliesenleger - bis zu seiner Pensionierung.
Dabei hatte er sich in vielen Jahren mit einem italienischen Kollegen angefreundet. Dieser Mann lud ihn im Urlaub zu sich nachhause ein. Nach Italien. Dort zeigte er Josef den Marmorsteinbruch von Carrara. ...
Ein dreieckiger Marmorbrocken liegt heute noch auf Josefs Grab.
Beim Adventmarkt in Garsten traf ich im Dez. 2018 Roland Neudeck, der dort gemeinsam mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar seinen Mineralienstand betreute. Ich hatte Herrn Neudeck im Juni zuvor meine beiden Bücher geliefert: DAS MASSAKER AM STERNLEITENHOF und STALINGRAD. KAMPF UND GEFANGENSCHAFT. ÜBERLEBT!
Wir sprachen über das STALINGRAD - Buch.
Seine Frau wandte sich uns zu, erzählte mir, dass der im Buch genannte "Boanbruchheiler" Zeilermayer ihr Großvater war. ...
Anmerkung: Der Quantenphysiker Hans Peter Dürr schreibt in seinem Buch Warum es ums Ganze geht, dass im Universum alles mit allem verbunden ist. Dem ist nichts hinzuzufügen.